Lebenschronik 1836 - 1839

Heidelberg 1836, München 1836 - 1839

3. April 1836

Ankunft in Heidelberg. Obwohl er ohne Abschluß vom Johanneum abging, will Hebbel in Heidelberg Jura studieren.

Ich bin nun schon seit Wochen bis über die Ohren in Juristerei versenkt, höre Rechtsgeschichte u Institutionen und weiß desungeachtet noch nicht, ob ich dabei bleibe, weil ich nicht weiß, inwieweit ich bei einer begreiflicherweise äußerst mangelhaften Kenntniß des Lateins werde zum Ziel gelangen können. Doch werd’ ich für das erste halbe Jahr, ich mag in diesem Punct nun Erfahrungen machen, wie ich will, redlich aushalten, allein Thibauts wegen, der mir auf die humanste Weise von der Welt das Honorar für seine Vorlesungen erlassen hat.

(An Jakob Franz, 22. Mai 1836, WAB 1, 87)

Ich bin gegenwärtig Student und in Heidelberg, Letzteres mit ganzer, Ersteres mit halber Seele. Die tollen Wellen des academischen Lebens rollen an mir, wie an einem Felsblock, vorüber und reißen mich selten mit sich fort. Dies ist so wenig mein Verdienst, als meine Schuld. Es bedarf des vollen Gefühls unbekümmerter Jugend, des durch keine Verhältnisse getrübten, heiteren Lebensmuths, wenn man sich freudig in einen Kreis hinein stürzen soll, der so wenig mit des Menschen, als mit der Menschheit höchsten Interessen etwas zu thun hat und der, weil Kraft und Vermögen immer ihr Medium suchen, für die Nothwendigkeit das Willkürlich-Phantasische supponirt. Ich wollte, daß ich’s könnte, aber Niemand kommt von der Galeere, wie er sie betrat. All mein Bestreben ist auf poetisches Schaffen und poetisches Wirken gerichtet; was damit nicht nach irgend einer Seite zusammen hängt, das ist für mich nicht da.

(An Klaus Voß, 14. Juli 1836, WAB 1, 94f.)

In diesen ersten Tagen und Wochen in Heidelberg lernt Hebbel den jungen Emil Rousseau (1817–1838) kennen, einen aus Ansbach stammenden Studenten, der zum engsten Freund der Heidelberger und Münchner Zeit wird.


 

6. Mai 1836

dichtet Hebbel das Nachtlied:

Quellende, schwellende Nacht,
Voll von Lichtern und Sternen:
In den ewigen Fernen,
Sage, was ist da erwacht?

Herz in der Brust wird beengt;
Steigendes, neigendes Leben,
Riesenhaft fühle ich’s weben,
Welches das meine verdrängt.

Schlaf, da nahst du dich leis,
Wie dem Kinde die Amme,
Und um die dürftige Flamme
Ziehst du den schützenden Kreis.


 

9. Juni 1836

Gestern Abend die Anna beendet. Zum ersten Mal Respect gehabt vor meinem dramatisch-episch in Erzählungen sich ergießenden Talent.

(T 178)

Vgl. Heinrich Detering: Hebbel oder Die Vernichtung der Vaterwelt. Anna, Kleist und die Autobiographie. In: Herkunftsorte. Literarische Verwandlungen im Werk Storms, Hebbels, Groths, Thomas und Heinrich Manns. Heide 2001, S. 44–81. – Dorothea Kunz: Dramatisch konzipierte Prosa. Eine Interpretation von Friedrich Hebbels Novelle Anna. In: HJb 2004, 91–117.


 

12. September 1836

Abschied von Heidelberg. Hebbel reist zu Fuß über Straßburg, Stuttgart, Tübingen, Reutlingen und Ulm nach München.

In Straßburg habe ich den Münster gesehen und natürlich erstiegen. Ein außerordentliches Werk, über welches Rechenschaft zu geben, fast eben so schwer ist, als es nachzumachen. In Stuttgart ist es mir sehr gut gegangen. Ich besuchte zuerst den Doctor Hermann Hauff, Bruder von Wilhelm Hauff, ersten Redacteur des Morgenblatts, sagte ihm, daß ich nach München ginge u fragte ihn, ob das Morgenblatt Correspondenz-Artikel aus München brauchen könne. Er antwortete mir, daß eine Correspondenz aus München sowohl ihm, als Herrn von Cotta äußerst willkommen seyn würde.

Der Kontakt zum damals sehr angesehenen „Morgenblatt für gebildete Stände“, das seit 1807 im Verlag Cotta erschien und in dem schon Goethe publiziert hatte, war für Hebbels berufliche Zukunft sehr wichtig. Hier erschienen in den nächsten Jahren von Hebbel Berichte, Gedichte, Aufsätze und Dramenauszüge.

Von Hauff ging ich zu Gustav Schwab. Ein herzlicher Mann, der mir mit großer Freundlichkeit entgegen kam und mir einige Zeilen nach Tübingen an Uhland mit gab. (...) Tags darauf ging’s nach Tübingen u Nachmittags um 2 Uhr zu Uhland. Man erwartet, ein bedeutender Mann soll, wie eine Voltaische Säule, seyn und electrische Stöße geben, wo man ihn nur berührt. (...) Dennoch aber war er mir fast zu simpel; wer sein Gold zu Rathe hält, pflegt sich doch auf Scheidemünze zu halten, aber er führte über die unbedeutendsten Dinge die Conversation mit einer unbegreiflichen Schwierigkeit (...) u da kann man ein inneres Mißbehagen nicht unterdrücken, wenn man ein Verehrtes u Hochgeschätztes so ganz u gar anders findet, als man es erwartete. Ich wollte gedrückt, ja erdrückt seyn, u eben dies, daß Uhland mich nicht drückte, war mir zuwider. Der Mensch ist ein Narr; läßt der Jupiter seine Donnerkeile zurück, so mag er sehen, wie er zum Weihrauch kommt.

(An Elise Lensing, 30. September 1836, WAB 1, 112f.)


 

29. September 1836

Ankunft in München; er nimmt Logis in der Vorstadt Max, Sommerstraße N: 3, eine Stiege hoch, bei der Revisorin Rüerl (T 365).

Die zweieinhalb Jahre, die Hebbel in München verlebt, sind arm an äußeren Ereignissen, aber umso bedeutsamer für seine innere Entwicklung. Er ist jetzt nicht mehr stud: jur: sondern Literat. Da er davon allerdings nicht leben kann und das Hamburger Stipendium bald aufgebraucht ist, wird er zunehmend auf die Unterstützung Elise Lensings angewiesen sein. Er hat, außer Emil Rousseau, der ihm von Heidelberg bald nachfolgt, keine Freunde und kaum Kontakt zur Münchner Kulturszene. Andererseits legen 1166 Tagebucheintragungen aus dieser Periode Zeugnis ab von Hebbels intensiver geistiger Auseinandersetzung mit der Zeit und dem Bemühen, seinem Dichtertum eine geistige Grundlage zu schaffen.


 

26. Oktober 1836

Solltest Du’s glauben, daß ich verliebt bin? Und doch ist das wirklich der Fall, und in so hohem Grade, wie jemals. Mir gerade gegenüber wohnt ein wunderschönes Mädchen. (...) Gestern Abend habe ich sie, nachdem ich 8 Tage lang auf jeden ihrer Schritte mit der Sorgfalt eines Polizei-Agenten gepaßt, zum erstenmal gesprochen, und bin für das erste Mal weit genug gekommen; nämlich zum Versprechen eines abermaligen Rendezvous. O, was ist doch die Liebe (jetzt erwartest Du etwas ganz Anderes, als folgen wird) für ein angenehmes Kaminfeuer in rauhen Herbsttagen, wenn sie zum 3ten oder 4ten Male kommt!

(An Jakob Franz, WAB 1, 123)

Das Mädchen ist die Schreinerstochter Josepha Schwarz (geb. 1813), genannt Beppi, die Hebbel gegenüber in der Sommerstraße 6 wohnt.

Vgl. Ernst Beutler: Beppi. In: Essays um Goethe. 7. Aufl. Zürich u München 1980, S. 711–722.


 

27. Oktober 1836

erscheint im „Morgenblatt“ der erste Münchner Brief, der das Oktoberfest behandelt (W 9, 361–371). Am 13. Dezember werden dort die Gedichte Nachtlied (s.o.) und Liebesgeheimnis abgedruckt.


 

5. Dezember 1836

Heut Abend Schelling gehört. Leute der Art sind gewöhnlich Gewitter, statt Lichter, er nicht.

(T 465)

Über den Einfluß des romantischen Naturphilosophen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854), der zu dieser Zeit in München lehrte, auf das Denken Hebbels ist in der Forschung seit hundert Jahren gestritten worden, ohne daß eine einheitliche Auffassung erreicht wurde.

Vgl. Wilhelm Waetzold: Hebbel und die Philosophie seiner Zeit. Diss. Berlin 1903. – Ernst Lahnstein: Das Problem der Tragik in Hebbels Frühzeit. Stuttgart 1909. – Wolfgang Liepe: Hebbel und Schelling. In: Hebbel WdF, 208–229 [zuerst 1953]. – Otfrid Ehrismann: Philosophie, Mythologie und Poesie. Hebbels Schellingrezeption in den Nibelungen. In: Neue Studien, 85–102.


 

31. Dezember 1836

Hab’ Achtung vor dem Menschenbild,
Und denke, daß, wie auch verborgen,
Darin für irgend einen Morgen
Der Keim zu allem Höchsten schwillt.

Hab’ Achtung vor dem Menschenbild,
Und denke, daß, wie tief er stecke,
Der Lebensodem, der ihn wecke,
Vielleicht aus Deiner Seele quillt.

Hab’ Achtung vor dem Menschenbild!
Die Ewigkeit hat eine Stunde,
Wo jegliches Dir eine Wunde
Und, wenn nicht die, ein Sehnen stillt!

Dies Gedicht, entstanden in der Neujahrs-Nacht, schreib’ ich in mein Tagebuch nieder, weil es für mich im Sittlichen eine Epoche bildet. Es ist der Maaßstab, nach dem ich mich richten werde. Aber, was hilft’s, sich selbst Sünder nennen, wenn man nicht zu sündigen aufhört, und das ist mein Fall. Durch Nichts greif’ ich die Unverletzbarkeit eines Menschen mehr an, als durch meine nichtswürdige, alle Gränzen überschreitende, Empfindlichkeit, denn gegen sie kann er sich so wenig schützen, als vertheidigen, weil er in ihr Krankheit oder Krankhaftigkeit schonen zu müssen glaubt.

(T 576)


 

1. April 1837

Hebbel zieht zu Beppis Eltern, dem Schreinermeister Schwarz. Im Mai 1838 zieht er mit der Familie in die Landwehrstraße Nr. 10 um.

Ende 1836 und in der ersten Hälfte des Jahres 1837, während in München die Cholera herrscht, entstehen mehrere Erzählungen: Der Schneidermeister Nepomuk Schlägel auf der Freudenjagd, das Märchen Der Rubin, das er später in Wien zu einem Drama umarbeiten wird, das Fragment gebliebene Die beiden Vagabunden und, als umfangreichste Arbeit, Schnock. Ein niederländisches Gemälde. Alle diese Arbeiten erscheinen erst ein Jahrzehnt später im Druck.

Ich studirte damals in München, und das in dem Winter, wo die Cholera dort wüthete. Die Krankheit räumte in meinem eigenen Hause auf, links und rechts fielen die Menschen um, wie Fliegen, die Todtenwagen flogen durch die Straßen, die Leichenglocken hörten gar nicht auf, zu bimmeln. Ich war ein armer Teufel und konnte für meinen Leib wenig oder gar Nichts thun, um das aber einzubringen, vergönnte ich meiner Phantasie, die ich sonst streng unter Clausur hielt, einige Excursionen und so entstand Schnock, der Schneidermeister Nepomuck Schlägel auf der Freudenjagd und der Philister. Letzteren, der besser war, wie die andern beiden Stücke, habe ich später einmal in einem Augenblick höchster Muthlosigkeit nebst Hunderten von Briefen, vielen Gedichten u.s.w. verbrannt; wenn Schnock und Anderes dem nämlichen Schicksal entging, so geschah es nur, weil mein Freund Rousseau die Sachen zufällig in Händen hatte und sich nicht in München, sondern im Gebirg befand.

(An Gustav Kühne, 4. März 1850, WAB 2, 126)

Vgl. Ingrid Kreuzer: Hebbel als Novellist. In: Hebbel in neuer Sicht, 150–163. – Herbert Kaiser: Schnock und anderes aus Hebbels epischem Labor. Über den Ursprung seines Dramas aus Erzählexperimenten. In: HJb 1996, 33–48. – Nicholas Saul: Zum Zusammenhang von Hebbels früher Erzähl- und Reiseprosa: Kunst, Leben und Tod im Übergang zur Moderne. In: HJb 2004, 73–90.


 

5. Juli 1837

Beppis Bruder Karl wird (zu Unrecht, wie sich später herausstellt) wegen Diebstahls beim Advokaten Klessing verhaftet. Dieses Erlebnis wurde für Hebbel später zum Anstoß für sein bürgerliches Trauerspiel Maria Magdalena.

Der Maria Magdalena z. B., der Sie Ihr Wohlwollen noch immer nicht entzogen haben, liegt ein Vorfall zu Grunde, den ich in München selbst erlebte, als ich bei einem Tischlermeister, der mit Vornamen sogar Anton hieß, wohnte. Ich sah, wie das ganze ehrbare Bürgerhaus sich verfinsterte, als die Gensd’armen den leichtsinnigen Sohn abführten, es erschütterte mich tief, als ich die Tochter, die mich bediente, ordentlich wieder aufathmen sah, wie ich mit ihr im alten Ton scherzte und Possen trieb.

(An Sigmund Engländer, 23. Februar 1863, WAB 4, 593)


 

22. Oktober 1837

In der Zeit meines einjährigen Aufenthalts in München habe ich verbraucht: 302 fl 13 xx, monatlich also über 25 fl. Verdient in der ganzen Zeit 30 fl.
Jene 302 fl 13x bestehen aus nachfolgenden Posten:
Bei meiner Ankunft hatte ich 8 fl
d. 19 Oct erhielt ich von E[lise] 83 fl 43 x
im Decbr. erhielt ich die R[endtorff] vorgeschossenen 100 fl
im März 2 Ducaten von A[lbrecht] 11 fl
im May 1837 erhielt ich von E[lise] 85 fl
im July von Cotta 30 fl, davon verbraucht bis heute 14 fl 30 x
zusammen 302 fl 13 x
Die Rechnung ist verkehrt, denn von der bei meiner Ankunft aus H[eidelberg] erhaltenen Summe lieh ich ja an R[endtorff], es sind also wenigstens abzuziehen 60 fl; bleibt 242 fl; monatlich also 20 fl.

(T 899)


Abkürzungen: fl = Gulden, x = Kreuzer; 1 Gulden = 60 Kreuzer. Die damals gebräuchlichen Währungen: 1 Louisdor = 1 Friedrichsdor = 2 Dukaten = 5 Taler = 10 Hamburger Bankmark = 15 schleswig-holsteinische und hamburgische Kurantmark = 10 Gulden.

Vgl. zu den Lebenshaltungskosten im 19. Jahrhundert: Finanztagebücher, 305–318.

muenchner tagebuch
Seite aus dem Münchner Tagebuch


 

6. März 1838

Die Gottheit selbst, wenn sie zur Erreichung großer Zwecke auf ein Individuum unmittelbar einwirkt und sich dadurch einen willkürlichen Eingriff (...) in’s Weltgetriebe erlaubt, kann ihr Werkzeug vor der Zermalmung durch dasselbe Rad, das es einen Augenblick aufhielt oder anders lenkte, nicht schützen. Dies ist wohl das vornehmste tragische Motiv, das in der Geschichte der Jungfrau von Orleans liegt. Eine Tragödie, welche diese Idee abspiegelte, würde einen großen Eindruck hervor bringen durch den Blick in die ewige Ordnung der Natur, die die Gottheit selbst nicht stören darf, ohne es büßen zu müssen.

(T 1011)

Diese Vorstellung einer tragischen Weltordnung, der selbst Gott unterworfen ist, zeigt Hebbel auf dem Weg zum Tragiker. Aus dem Plan einer Jungfrau von Orleans-Tragödie entwickelte sich später die Judith.


 

18. August 1838

Emil Rousseau promoviert über das (offensichtlich von Hebbel beeinflußte) Thema: „Beurtheilung der beiden berühmtesten Heldenthaten, der Schlachten bei Thermopylä und Hemmingstedt, basirt auf eine Darstellung und Parallele der socialen Zustände Sparta’s und Dithmarschen’s“.

Mein Freund hat vor einiger Zeit als Doctor phil: promovirt. Ich opponirte ihm bei der Gelegenheit (d.h. bestritt seine aufgestellten Thesen) und machte die Erfahrung, daß es mir gleichgültig ist, ob ich in meinem Zimmer, einem einzigen Zuhörer gegenüber reden soll, oder in der größten Versammlung. Die Versammlung war glänzend und ansehnlich genug; alle Professoren der Universität waren anwesend und außerdem von den Verwandten meines Freunds, der, aus einer sehr vornehmen Familie, fast mit dem ganzen München verschwägert ist, das Auditorium stark angefüllt. Er forderte Niemanden zur Opposition auf, als mich, was nicht wenig auffiel, da der Doctorand sich sonst immer an die Professoren wendet; unser Gefecht (meinerseits durchaus Spiegelfechterei, da es mir mit keinem meiner Einwürfe ernst seyn konnte, weil ich eigentlich mich selbst bestritt) dauerte über eine Stunde.

(An Elise Lensing, 13. September 1838, WAB 1, 236f.)

Vgl. den Wiederabdruck der Dissertation in: HJb 1990, 25–65.

emil-rousseau
Emil Rousseau, Bleistiftzeichnung


 

4. September 1838

Tod der Mutter.

Sonntag, den 16ten d. M., als ich kaum zu Mittag gegessen hatte, erhielt ich einen Brief von meinem Bruder, worin er mir anzeigte, daß meine Mutter Antje Margaretha, geb. Schubart, in der Nacht vom 3ten auf den 4ten um 2 Uhr gestorben sey. Sie hat ein Alter von 51 Jahren 7 Monaten erreicht und ist, was ich für eine Gnade Gottes erkennen muß, nur 4 Tage krank gewesen, 4 Tage ganz leidlich, so daß sie noch selbst aufstehen konnte, den 5ten sehr bedeutend, mit Krämpfen geplagt, die ein Schlagfluß mit dem Leben zugleich (auf sanfte Weise, wie der Arzt sich aussprach) endete. Sie war eine gute Frau, deren Gutes und minder Gutes mir in meine eigne Natur versponnen scheint: mit ihr habe ich meinen Jähzorn, mein Aufbrausen gemein, und nicht weniger die Fähigkeit, schnell und ohne Weiteres Alles, es sey groß oder klein, wieder zu vergeben und zu vergessen.

(T 1295)

Der rechte Schmerz um meine Mutter hat mich noch nicht erfaßt. Auch zum Schmerz gehört Kraft, und die meinige liegt in Ohnmacht, mein Herz steht still, mein Geist ist gefesselt. Der rechte Schmerz wird erst kommen, wenn ich wieder ich selbst bin, wenn ich in Erinnerungen aus der Vergangenheit und in Träumen der Zukunft webe. Dann, wenn das Glück mir eine Blüte nach der andern zuwirft, werd’ ich lächeln und fragen: wozu? Jetzt bin ich selbst halb todt.

(An Elise Lensing, 17. September 1838, WAB 1, 240)


 

2. Oktober 1838

Im elterlichen Haus in Ansbach stirbt Emil Rousseau 22jährig am Typhus.

O, Elise, das war der beste Mensch, den die Erde je getragen hat. Ich weiß, ein Jeder sagt das im Augenblick eines solchen Verlustes, aber ich sage Nichts, als was ich immer gefühlt habe. Du kennst mich, Du weißt, wie schwer es mit mir zu leben ist; drittehalb Jahre sind wir Freunde gewesen, zwei Jahre waren wir ununterbrochen zusammen, und niemals, niemals haben wir uns entzweit. An mir lag es nicht, wenn es nicht geschah, aber seine himmlische Sanftmuth, seine Kraft, Alles, was ihn verletzen mußte, still in sich zu verschließen, seine Großmuth, meinem geringen, nichtswürdigen Talent jede Herbheit meines Wesens zu vergeben, ach alle jene hohen Eigenschaften seines Herzens, die mich ihn jetzt in der Glorie eines Heiligen erblicken lassen, ließen nie einen Zwist aufkommen. (...)
„Schlumm’re sanft!“ Das war der Gruß, mit dem er mich des Abends (ich brachte die Abende meistens mit ihm in seinem Zimmer oder im Freien zu) gewöhnlich entließ. Seine Stimme war so innig, so unendlich weich und mild, mir däucht jetzt, ich habe niemals etwas Süßeres gehört. Dies „Schlummre sanft“ klingt mir immerwährend in der Seele fort; ich glaubte es die ganze, letzte Nacht zu hören, es tönte in meinen Schlaf hinein. Ja, schlummre sanft, mein liebster, theuerster, unvergesslicher Rousseau, schlumm’re sanft, vergieb mir, oder, wenn’s seyn muß, vergiß mich, und bitte Gott, daß er dies verfluchte harte, starre Herz so zerquetsche, zerdrücke, martre, bis es wieder zu fühlen anfängt, oder zu schlagen aufhört; Dir aber gebe er die Seligkeit des reinsten Daseyns und die Kraft, Deinen Geliebten, Deinen armen Eltern und Geschwistern noch als Geist zu nahen und sie zu trösten.
Ich kann jetzt nicht weiter schreiben.

(An Elise Lensing, 5. Oktober 1838, WAB 1, 250f.)

Der Kontakt mit der Familie Rousseau, besonders mit Vater und Schwester des Freundes, bleibt erhalten; später werden sie Hebbel finanziell unterstützen. Die Gedichtausgabe von 1842 ist Dem Andenken meines Freundes Emil Rousseau gewidmet.


 

3. Januar 1839

Winterlandschaft

Unendlich denhnt sie sich, die weiße Fläche,
Bis auf den letzten Hauch von Leben leer;
Die muntern Pulse stockten längst, die Bäche,
Es regt sich selbst der kalte Wind nicht mehr.

Der Rabe dort, im Berg von Schnee und Eise,
Erstarrt und hungrig gräbt sich tief hinab
Und gräbt er nicht heraus den Bissen Speise,
So gräbt er, glaub’ ich, sich hinein ins Grab.

Die Sonne, einmal noch durch Wolken blitzend,
Wirft einen letzten Blick aufs öde Land;
Doch gähnend auf dem Thron des Lebens sitzend,
Trotzt ihr der Tod im weißen Festgewand.

Innerlich ausgelaugt und beruflich gescheitert, sehnt Hebbel sich danach, aus München wegzukommen. Für eine Promotion fehlt ihm das Geld. Den Winter 1838/39 verbringt er nur noch in München, weil er die Reise nach Hamburg bei schlechtem Wetter fürchtet. Nach Hamburg geht er aber nur zurück, weil er keine andere Wahl hat. Am


 

11. März 1839

tritt er die Reise nach Hamburg an, die er zum größten Teil zu Fuß zurücklegt, günstige Mitfahrgelegenheiten und eine Fahrt mit der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth (1835 eröffnet) abgerechnet (vgl. das „Reise-Journal“ T 2654). Nur Beppi Schwarz verabschiedet ihn in München; die beiden werden sich nie wiedersehen. Am


 

30. März 1839

trifft er abgerissen und erschöpft in Harburg mit Elise zusammen.

Beklemmendes Gefühl, als ich die Thürme von Hamburg, die mir bei einer Biegung des Weges plötzlich in die Augen sprangen, wieder erblickte; lauter halbe, zerrissene, in sich nichtige und bestandlose Verhältnisse; ein Wolkenheer und nur ein einziger Stern: Elise; diese, von Göttingen aus über den Tag meiner Ankunft benachrichtigt, kam Nachmittags mit dem Dampfschiff in Harburg an; schmerzlich-süßes Wiedersehen, denn auch wir standen nicht zu einander, wie wir sollten und schlecht vergalt ich ihr ihre unendliche Liebe, ihre zahllosen Opfer, durch ein dumpfes, lebefaules Wesen.

(T 2654)


 

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Es gibt Leute, die nur aus dem Grunde in jeder Suppe ein Haar finden, weil sie, wenn sie davor sitzen, so lange den Kopf schütteln, bis eins hineinfällt.

Tagebuch, 11. Januar 1857